Freitag, 28. September 2012

Rezension – Olga Grjasnowa: »Der Russe ist einer, der Birken liebt«

Ich hielt das Börsenblatt in den Händen, am Tag, nachdem die Longlist für den Deutschen Buchpreis verkündet worden ist. Begierig blätterte ich weiter und weiter, bis ich endlich auf die ausführliche Besprechung aller nominierten Titel stieß. Mein Blick blieb sofort an einer Kandidatin hängen, die blass, zart und fast durchscheinend den Betrachter fixierte, die Lippen dunkelrot. Ich las die Zusammenfassungen und blieb wieder hängen – dieses Mal an ihrem Roman. Zwei Wochen später hielt ich ihn in den Händen und war gespannt, ob der Titel für die Shortlist oder vielleicht sogar für den Buchpreis taugen könnte.



Inhalt 
Die Hauptfigur in Olga Grjasnowas Roman »Der Russe ist einer, der Birken liebt« heißt Maria, wird aber Mascha genannt. Sie ist sehr jung und ehrgeizig, möchte als Dolmetscherin Karriere bei der UNO machen, spricht Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Arabisch, ist Jüdin, Aserbaidschanerin und lebt in Frankfurt. Sie wohnt mit Elias zusammen, den sie sehr liebt, aber auch auf Distanz hält. Es kommt zu Konflikten, weil Mascha ihm nichts von ihrer Kindheit in Aserbaidschan erzählen möchte und sich ihm immer mehr verschließt. Als Elias einen Unfall hat und nach langer Zeit an seinen Verletzungen stirbt, gerät die traumatisierte Mascha immer mehr außer Kontrolle, testet ihre Grenzen und verliert sich schließlich in ihrer Trauer auf der Flucht in Israel.

Meinung (Ohne Spoiler) Mitten im Buch musste ich irgendwann enttäuscht die Augen schließen. Nicht, weil die Geschichte mich nicht überzeugt hätte, unlesbar oder schlecht geschrieben wäre. Nein, weil ich begriff, dass die Autorin unmöglich auf die Shortlist kommen würde. Das Grundmotiv des Romans, die Sprachlosigkeit, ähnelte zu sehr derselben Sprachlosigkeit, wie ich sie in Kathrin Schmidts Roman »Du stirbst nicht« erlebt habe. Der einzige Unterschied? Bei Olga Grjasnowas Buch war die Sprachlosigkeit psychischer Natur, bei Schmidt körperlich.

Dennoch sog ich den Roman und seine Geschichte auf. Da ich selbst bilingual und wurzellos aufgewachsen bin, faszinieren mich solche Themen immer. Sprachen sind ein sehr spannendes Gebiet, und die Autorin treibt es hier auf die Spitze: Mascha erlebt schon früh die Macht der Sprache, wird Dolmetscherin, um sich wehren zu können, um nicht mehr sprachlos zu sein. Trotzdem kann sie nicht darüber sprechen, was sie in ihrer Kindheit im Kriegsgebiet erlebt hat. Sie baut zu allen eine Distanz auf und entfernt sich zunehmend vom Leser, ist nicht greifbar, ihre Reaktionen unberechenbar und immer unkontrollierter.


Indem sie immer genau das Gegenteil von dem tut, was sie eigentlich möchte, spürt man als Leser ihre Zerrissenheit: Sie möchte trauern, betäubt ihren Schmerz aber. Sie möchte zu UNO, verliert dieses Ziel und lässt sich auf eine schlechter gestellte Stellung in Israel ein. Sie möchte Frieden und ihre Freunde um sich haben, zieht aber in das ebenso zerrissene Kriegsgebiet Israel, weit weg von ihren Freunden, die für sie eigentlich Heimat bedeuten. Sie will Ruhe, ist aber keinem Streit abgeneigt, möchte ihr Trauma verarbeiten, fügt aber letztlich anderen durch ihr Verhalten immer wieder Schmerzen zu.

Und sie reflektiert nicht. Mascha erlebt und erlebt, ohne wirklich zu leben, ist rastlos und nicht vorhersehbar, wie auch die komplette Handlung. Olga Grjasnowa hat mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« ein wahnsinnig spannendes Debüt geschaffen. Lediglich ihre geschichtlichen Ausflüge fand ich anstrengend. Sie mischte alle Konflikte zusammen: Russen, Armenier, Aserbaidschaner, Libanesen, Israelis, Christen, Juden, Moslems und für meinen geringen Kenntnisstand zum Konflikt in Aserbaidschan waren die Erklärungen zu oberflächlich.

Meinung (mit Spoiler) Neben der Sprache war die Heimatlosigkeit ein Thema. Hier glänzte der Roman durch Humor im alltäglichen Rassismus und nachdenklichen Passagen. Einer der Gedanken, der mich berührt hat, war die Erklärung von Maschas bestem Freund Cem, warum er mit dem Dolmetscherstudium angefangen habe. Er dachte an den Tag zurück, als er sich zum ersten Mal anders gefühlt hatte, sich als Migrant gesehen hat. Es war der Tag, als ein junger Franzose zu ihm in die Klasse kam. Obgleich er kein Wort Deutsch sprach, wurde er von den Lehrerinnen umschwärmt. Den anderen Migranten in der Klasse traute man hingegen nicht mal den Sprung auf das Gymnasium zu.

Auch die Rollen, die Mascha immer wieder durch ihre Sprachen spielen konnte, waren spannend zu beobachten. Ihr libanesischer Dialekt wurde ganz erstaunt gelobt, traute man der hellhäutigen Aserbaidschanerin doch kein Arabisch zu. Und das sie als Jüdin kein Hebräisch, aber Arabisch sprach, verwirrte manch andere noch mehr und führte in Israel oft zu Konflikten.

Nicht alle Gedanken und Anekdoten sind originell – beispielsweise der Auffahrunfall in Frankfurt – doch andere Beschreibungen, Vergleiche und Schlussfolgerungen machten das wieder gut.

Fazit 
Olga Grjasnowa hat mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« ein spannendes Debüt hingelegt, das für mich die spannenden Themen Sprachen, Sprachlosigkeit, Heimatlosigkeit und die Verarbeitung von Trauer aufgreift. Zudem rührt sie in einem bunten Potpourri aus fremden, exotischen Kulturen, Religionen, Ländern, geschichtlichen Ereignissen. Im Mittelpunkt steht Mascha, die unheimlich zerrissen ist und sich am Ende verliert. Ich halte es wie Elmar Krekeler in seiner Welt-Rezension: Auch ich möchte Mascha trösten und in den Arm nehmen, bin mir allerdings auch sicher, dass sie es weder wollen noch mögen würde.

Olga Grjasnowa
»Der Russe ist einer, der Birken liebt«
Carl Hanser Verlag, 288 Seiten, 18,90 Euro
ISBN: 978-3446238541
Erschienen am 06.Februar 2012

3 Kommentare:

  1. Eine interessante und gut reflektierte Rezension! Vielen Dank dafür und für deinen sehr ästhetischen Blog :)

    AntwortenLöschen
  2. Das Buch steht schon seit einiger Zeit auf meiner Wunschliste, die Themen, die es behandelt (Sprach- und Heimatlosigkeit, die Überwindung von räumlichen und menschlichen Grenzen), finde ich wahnsinnig spannend, v.a. im Zusammenhang mit osteuropäischen sowie israelischen/jüdischen (Familien-)Geschichten.
    Danke für die schöne Besprechung!

    AntwortenLöschen