Montag, 17. September 2012

Urlaub ohne Kafka


Seit meinem letzten richtigen Urlaub sind inzwischen wieder zwei Jahre vergangen. Damals waren Wortschatz und ich in Weimar und besuchten Goethe und Schiller. Unser Urlaub fing dieses Mal allerdings mit einer Hochzeit an: JJ heiratete! HK war Trauzeugin und als langjährige Freundin im Dreiergespann sorgte ich gemeinsam mit Wortschatz für die Hochzeitsfotos. Dazu reisten wir vor über einer Woche nach Bad Hersfeld. Die Stadt kannte ich bislang nur als Standort von Amazon und Libri mit DHL- und Hermes-Zentren.


Umso überraschter war ich, als ich die romantische Seite von Bad Hersfeld entdeckte. Die Altstadt erinnerte mich vom Grundriss her ein wenig an Lübeck, nur waren die kleinen Straßen nicht so verwinkelt und verträumt wie die der Marzipanstadt. Dafür fuhr Bad Hersfeld zwischen den romanischen Einflüssen die schweren Geschütze einer modernen Großstadt mit einem Shopping-Center im Herzen auf. Besonders beeindruckend war die Stiftsruine, die die größte romanische Kirchenruine in Europa ist. In dieser Kulisse finden jedes Jahr die Bad Hersfelder Festspiele statt.


Besonders schön war der Kurpark im Westen der Stadt. Leider waren viele Beete abgeblüht und die Bäume hatten noch nicht ihr hübsches Herbstkleid an, weshalb sich die Pracht des Parks im Sommer nur erahnen ließ. Unser Hotel in der Nähe war sehr gemütlich: Mit Abstand bewohnten wir hier das größte Zimmer, das wir jemals im Urlaub gebucht hatten, mit ebenerdiger Terrasse, kitschigen Putten und zwei Badezimmern. Morgens durfte ich zwischen mehr als zwanzig Cornflakessorten wählen und nachmittags gab es umsonst Kuchen. Jeden Abend thronte ein adipöser, fauler Kater auf dem Dach unseres Marzipanautos.


Die ersten Fotos vermitteln schon einen Eindruck von der Hochzeit, die sich über zwei Tage erstreckte. JJ und MW ritten auf ihren Pferden T und P zum Standesamt im Kurpark, ein ganzer Reitertross mit Cowboyhüten trabte hinterher. Wortschatz und ich hatten die weniger grazile Rolle, mit Kameras und schweren Rucksäcken vor den Pferden herzusprinten. Insgesamt haben wir mehr als 2000 Fotos zusammen gemacht. Nur wenig Motive waren doppelt, da wir unsere Objektive geschickt aufteilten und nie dieselben Blickwinkel nutzten. Im Standesamt stand er vorne rechts hinter dem Beamten mit einem Teleobjektiv und machte Detailaufnahmen, ich stand vorne links mit meinem Standard und behielt den Überblick. Zwischendurch warfen wir uns grinsende Blicke zu.


Statt kitschiger Hochzeitsfotos kamen so viele schöne Momentaufnahmen heraus. Während der anschließenden Feier auf dem Reiterhof blieben wir im Hintergrund und fotografierten aus dem Hinterhalt viele schöne Augenblicke, natürlich und ungestellt, so wie die Hochzeit auch gewesen ist. Statt steifer Reden fühlten wir uns wie unter Freunden, statt einem Hochzeitswalzer gab es nachts ein Theaterstück mit Pferden und Feuertänzern. Und statt Pumps war ich zwei Tage lang in Cowboystiefeln zum grünen Kleid unterwegs. Der Höhepunkt war das berittene Bogenschießen, das das Brautpaar JJW und MW am letzten Tag organisierten. Ich blieb zwar auf dem Boden, probierte den Umgang mit Pfeil und Bogen aber auch mal aus. Und war gar nicht so schlecht. Der zweite Pfeil steckte im Pfosten hinter der Scheibe mit dem Rehmotiv, der dritte Pfeil ging glatt durch die Kehle des Tieres.


Nach Bad Hersfeld und der Hochzeit nutzten wir den Kilometervorsprung und fuhren weiter in den Osten hinein. Unsere Ferienresidenz hieß Sebnitz und unser Hotel war nur 500 Meter von der tschechischen Grenze entfernt. Die Seidenblumenstadt wartete mit einem urigen Hotel auf uns: Dank eines Angebots residierten wir in einer Suite mit Seidentapete, Spiegeln mit goldenen Rahmen, pompösen Möbeln aus dunklem Holz mit vergoldeten Schmuckelementen und einer freistehenden Badewanne mit goldenen Löwenfüßchen. Wortschatz und ich wären fast rückwärts aus unserem Gemach gefallen. Und wir waren bestimmt vierzig Jahre jünger als die jüngsten Gäste in dem Hotel. Wir fühlten uns wie Könige in einem längst vergessenen Reich.


Sebnitz war so gar nicht unsere Stadt. Bad Schandau oder Königsstein erschienen während unserer kurvigen Fahrten wesentlich attraktiver und vor allem belebter. Wir brauchten nicht mal eine Stunde, um zu Fuß alle Sehenswürdigkeiten der Stadt zu erkunden. Alles war lieblich, verträumt, romantisch, dann verfallen, dann leer, ab und an wüst. Außer dem Seidenblumenmuseum, dem schönen Einbezug der Sebnitz (dem Fluss), einigen kleinen Geschenkelädchen und einem Rossmann und Edeka auf dem Marktplatz bot die Stadt nichts. Ab spätestens 18 Uhr waren die Straßen leer gefegt, nur Touristen irrten umher, dazu ein paar Katzen, und die Polizei, die gelangweilt Streife fuhr. Schon am ersten Tag ergriffen wir die Flucht.


Unser Weg führte uns zunächst nach Dresden. Am heißesten Tag hechelten wir durch die wunderschöne Altstadt um die Frauenkirche herum, starben unzählige Tode und hatten keine Lust auf Fotos. Wir aßen in der Mittagshitze Rippchen in einem kleinen Restaurant nahe der Elbe, tigerten um die Frauenkirche herum, waren erschlagen von der Pracht um uns herum und ließen uns schließlich in eine Rikscha fallen. Der freundliche Führer radelte uns sächselnd durch die Stadt, beantwortete wissend und voller witziger Anekdoten unsere Fragen, zeigte Bilder vom Krieg und dem zerstörten Dresden und wir staunten über die kluge Pracht der aktuellen Neubauten. Alles passte, alles war schön und selbst die modernen Elemente in der Architektur stimmten mit den ursprünglichen Häusern überein. So eine Harmonie habe ich selten in einer anderen deutschen Stadt erlebt. In Gedanken an den Fürstenzug, die Fliesen und Phosphorbomben fuhren wir abends zurück nach Sebnitz und bekamen im Hotel den leckersten Flammkuchen der Welt aufgetischt.


Prag war unser nächstes Ziel. Viel zu früh, allerdings mit Lunchpaketen ausgestattet, fuhr uns ein Bus in die goldene Stadt. Wir erwischten eine fitte Rentnertruppe mit einigen wenigen Ausnahmen wie uns und einen gesprächigen Reiseleiter, der sein Gehalt pro gesprochenes Wort berechnet bekam. Er plapperte die ganze Fahrt nach Prag, danach natürlich die Führung, zum Schluss dann wieder die Fahrt zurück nach Bad Schandau durch. Mein Kopf war voller Zahlen. Ich lechzte nach Geschichten und schlief ein.


Tschechien hat mich wahnsinnig frustriert. Entwickelte ich da etwa so eine Art Hassliebe wie Kafka einst? Ich war verblüfft über die Veränderung der Städte kurz nach der Grenze. Unser Reiseleiter bezeichnete die Ramschmärkte ironisch als Klein-Hanoi. Direkt nach dem Grenzübertritt waren die Straßen kaputt, die Gehwege fehlten, von Fahrbahnmarkierungen ganz zu schweigen. Die Häuser sahen heruntergekommen aus, die Gärten waren ungepflegt und mit Zeug vollgestellt, die Leitungen verliefen alle wirr überirdisch. Die Beschilderungen versprachen Zahnärzte, die günstiger waren. Hinter einer Biegung, entlang einer besonders nach Industrie aussehenden Straße war sie dann plötzlich da: Die Elbe und ihr gewaltiges Tal, dem (laut Reiseleiter) Lago Maggiore Tschechiens. Das war der schönste Anblick von Natur, den ich auf unserer Reise erlebt habe. Nach der nächsten Abfahrt folgte wieder der Kontrast: Riesige Werbeschilder prangten an den Autobahnen, die Mautstationen ließen unseren Bus beständig piepsen und auf der Rast an einer Tankstelle sahen wir uns mit Kronen konfrontiert, bezahlten problemlos mit dem Euro zu einem Kurs von 1:24 und suchten an der Colaflasche vergebens nach dem Zeichen für Pfand. Wir Deutschen!


Nach dem ersten Kulturschock ließ ich mich in Prag fallen, diese Stadt, die ich mir wegen Kafka immer irgendwie dunkel und dreckig vorgestellt habe. Im Palast bewunderten wir die große Kirche, die gepanzerten Škodas, die Gärten, die Soldaten, die grünen Straßenlaternen, die jede Nacht noch von einem Nachtwächter entzündet werden, das Schwarzbacher Haus, in das ich total verliebt war, und den Ausblick über diese gewaltige Stadt. Natürlich spielten die Musiker passenderweise Smetanas Moldaulied, bevor sie von dem Schichtwechsel der Soldaten unterbrochen wurden. Unten bewunderten wir Sankt Nikolaus, den Hradschin, die Karlsbrücke mit dem heiligen Nepomuk, die Innenstadt, das Judenviertel, das Altstädter Rathaus. Alles kostete Eintritt, inzwischen sogar das Goldene Gässchen. Eigentlich war das ein festes Ziel von mir, doch in der Mittagspause am Rathaus waren wir zu weit davon entfernt. So erkundeten wir die Stadt relativ planlos. Erst später bemerkte ich, dass sich Kafkas Geburtshaus ganz in der Nähe befunden hat. Leider kam diese Info zu spät für einen Besuch, weshalb ich mich immer noch gräme.


Prag hat mich als Stadt unheimlich fasziniert und zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich mich wirklich hilflos in der Fremde, alleine in einer Stadt, in der ich wirklich gar nichts verstand. Die Sprache war mir fremd, ich konnte mir nichts herleiten oder zusammenreimen, obwohl ich fünf Sprachen spreche. Keiner konnte Deutsch, viele nur eine Handvoll Englisch. Durch diese frustrierende Sprachlosigkeit setzte bei mir sehr schnell das Gefühl ein, einen richtigen Urlaub zu erleben. Zurück im Hotel schritten wir pompös und totmüde ins Bett, rückten schläfrig unsere Kronen zurecht und freuten uns, nicht ausgeraubt worden zu sein.


Regen am Tag, der für das Wandern eingeplant war? Wanderschuhe mit Luftlöchern? Diese Voraussetzungen trieben uns auf die Festung Königsstein und in eine Führung in den Tiefen der Kasematten (mein neues Lieblingswort neben adipös). Die Burg ist eine der größten Bergfestungen in Europa und mindestens 400 Jahre alt. Die Festung Königsstein wurde als Militärstandort benutzt, aber niemals eingenommen (außer von einem unglücklichen Schornsteinfeger). Mit 152,5 Metern befindet sich hier der zweittiefste Brunnen Europas. Umgeben von Nebel wanderten wir die zwei Kilometer entlang der Burgmauern. Der Wetterbericht hatte selbst im Nachhinein nicht gestimmt. Statt Regen blieb es beim Nebel. Im Musketier-Restaurant gönnten wir uns Erbsensuppe und Sauerbraten und stießen in mittelalterlicher Umgebung mit einem Waldmeistergebräu an.


Am letzten Tag wanderten wir zur Basteibrücke bei Rathen. Um uns herum zeigte sich die sächsische Schweiz mit dem Elbsandsteingebirge von seiner strahlenden Seite. Wir konnten mit dem Fotografieren von Steinformationen gar nicht mehr aufhören, zahlten Eintritt und durften uns die Felsenburg Neurathen ansehen. Die Ruine zeigte das, was von der mittelalterlichen Felsenburg übrig geblieben ist. Die Vorstellung, dass sich hier auf dem Platteau eine Burg befunden hat, war faszinierend, die Aussicht war toll. Allerdings bot  der Zugang, für den wir immerhin Eintritt bezahlt hatten, keinerlei Informationswert außer einigen Hinweisschildern, welche Funktion welche Einkerbung erfüllt hat. Keine Erklärungen, keine Tafeln, es blieb bei der Aussicht auf dem Wehrgang, und der Vorstellung, wie es einst gewesen sein könnte. Es folgten: 499 Kilometer Heimreise und das Gefühl, das noch eine Woche Urlaub doch ganz in Ordnung wären.


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