Freitag, 28. September 2012

Rezension – Olga Grjasnowa: »Der Russe ist einer, der Birken liebt«

Ich hielt das Börsenblatt in den Händen, am Tag, nachdem die Longlist für den Deutschen Buchpreis verkündet worden ist. Begierig blätterte ich weiter und weiter, bis ich endlich auf die ausführliche Besprechung aller nominierten Titel stieß. Mein Blick blieb sofort an einer Kandidatin hängen, die blass, zart und fast durchscheinend den Betrachter fixierte, die Lippen dunkelrot. Ich las die Zusammenfassungen und blieb wieder hängen – dieses Mal an ihrem Roman. Zwei Wochen später hielt ich ihn in den Händen und war gespannt, ob der Titel für die Shortlist oder vielleicht sogar für den Buchpreis taugen könnte.



Inhalt 
Die Hauptfigur in Olga Grjasnowas Roman »Der Russe ist einer, der Birken liebt« heißt Maria, wird aber Mascha genannt. Sie ist sehr jung und ehrgeizig, möchte als Dolmetscherin Karriere bei der UNO machen, spricht Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Arabisch, ist Jüdin, Aserbaidschanerin und lebt in Frankfurt. Sie wohnt mit Elias zusammen, den sie sehr liebt, aber auch auf Distanz hält. Es kommt zu Konflikten, weil Mascha ihm nichts von ihrer Kindheit in Aserbaidschan erzählen möchte und sich ihm immer mehr verschließt. Als Elias einen Unfall hat und nach langer Zeit an seinen Verletzungen stirbt, gerät die traumatisierte Mascha immer mehr außer Kontrolle, testet ihre Grenzen und verliert sich schließlich in ihrer Trauer auf der Flucht in Israel.

Meinung (Ohne Spoiler) Mitten im Buch musste ich irgendwann enttäuscht die Augen schließen. Nicht, weil die Geschichte mich nicht überzeugt hätte, unlesbar oder schlecht geschrieben wäre. Nein, weil ich begriff, dass die Autorin unmöglich auf die Shortlist kommen würde. Das Grundmotiv des Romans, die Sprachlosigkeit, ähnelte zu sehr derselben Sprachlosigkeit, wie ich sie in Kathrin Schmidts Roman »Du stirbst nicht« erlebt habe. Der einzige Unterschied? Bei Olga Grjasnowas Buch war die Sprachlosigkeit psychischer Natur, bei Schmidt körperlich.

Dennoch sog ich den Roman und seine Geschichte auf. Da ich selbst bilingual und wurzellos aufgewachsen bin, faszinieren mich solche Themen immer. Sprachen sind ein sehr spannendes Gebiet, und die Autorin treibt es hier auf die Spitze: Mascha erlebt schon früh die Macht der Sprache, wird Dolmetscherin, um sich wehren zu können, um nicht mehr sprachlos zu sein. Trotzdem kann sie nicht darüber sprechen, was sie in ihrer Kindheit im Kriegsgebiet erlebt hat. Sie baut zu allen eine Distanz auf und entfernt sich zunehmend vom Leser, ist nicht greifbar, ihre Reaktionen unberechenbar und immer unkontrollierter.


Indem sie immer genau das Gegenteil von dem tut, was sie eigentlich möchte, spürt man als Leser ihre Zerrissenheit: Sie möchte trauern, betäubt ihren Schmerz aber. Sie möchte zu UNO, verliert dieses Ziel und lässt sich auf eine schlechter gestellte Stellung in Israel ein. Sie möchte Frieden und ihre Freunde um sich haben, zieht aber in das ebenso zerrissene Kriegsgebiet Israel, weit weg von ihren Freunden, die für sie eigentlich Heimat bedeuten. Sie will Ruhe, ist aber keinem Streit abgeneigt, möchte ihr Trauma verarbeiten, fügt aber letztlich anderen durch ihr Verhalten immer wieder Schmerzen zu.

Und sie reflektiert nicht. Mascha erlebt und erlebt, ohne wirklich zu leben, ist rastlos und nicht vorhersehbar, wie auch die komplette Handlung. Olga Grjasnowa hat mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« ein wahnsinnig spannendes Debüt geschaffen. Lediglich ihre geschichtlichen Ausflüge fand ich anstrengend. Sie mischte alle Konflikte zusammen: Russen, Armenier, Aserbaidschaner, Libanesen, Israelis, Christen, Juden, Moslems und für meinen geringen Kenntnisstand zum Konflikt in Aserbaidschan waren die Erklärungen zu oberflächlich.

Meinung (mit Spoiler) Neben der Sprache war die Heimatlosigkeit ein Thema. Hier glänzte der Roman durch Humor im alltäglichen Rassismus und nachdenklichen Passagen. Einer der Gedanken, der mich berührt hat, war die Erklärung von Maschas bestem Freund Cem, warum er mit dem Dolmetscherstudium angefangen habe. Er dachte an den Tag zurück, als er sich zum ersten Mal anders gefühlt hatte, sich als Migrant gesehen hat. Es war der Tag, als ein junger Franzose zu ihm in die Klasse kam. Obgleich er kein Wort Deutsch sprach, wurde er von den Lehrerinnen umschwärmt. Den anderen Migranten in der Klasse traute man hingegen nicht mal den Sprung auf das Gymnasium zu.

Auch die Rollen, die Mascha immer wieder durch ihre Sprachen spielen konnte, waren spannend zu beobachten. Ihr libanesischer Dialekt wurde ganz erstaunt gelobt, traute man der hellhäutigen Aserbaidschanerin doch kein Arabisch zu. Und das sie als Jüdin kein Hebräisch, aber Arabisch sprach, verwirrte manch andere noch mehr und führte in Israel oft zu Konflikten.

Nicht alle Gedanken und Anekdoten sind originell – beispielsweise der Auffahrunfall in Frankfurt – doch andere Beschreibungen, Vergleiche und Schlussfolgerungen machten das wieder gut.

Fazit 
Olga Grjasnowa hat mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« ein spannendes Debüt hingelegt, das für mich die spannenden Themen Sprachen, Sprachlosigkeit, Heimatlosigkeit und die Verarbeitung von Trauer aufgreift. Zudem rührt sie in einem bunten Potpourri aus fremden, exotischen Kulturen, Religionen, Ländern, geschichtlichen Ereignissen. Im Mittelpunkt steht Mascha, die unheimlich zerrissen ist und sich am Ende verliert. Ich halte es wie Elmar Krekeler in seiner Welt-Rezension: Auch ich möchte Mascha trösten und in den Arm nehmen, bin mir allerdings auch sicher, dass sie es weder wollen noch mögen würde.

Olga Grjasnowa
»Der Russe ist einer, der Birken liebt«
Carl Hanser Verlag, 288 Seiten, 18,90 Euro
ISBN: 978-3446238541
Erschienen am 06.Februar 2012

Mittwoch, 26. September 2012

Bibliophile Momentaufnahmen – Kalenderwoche 39


Habe ich mich vor einiger Zeit über farbigen Buchschnitt gefreut, folgt nun anscheinend der nächste Trend. Es ist so einfach wie genial: Statt einem Muster oder einer Farbe werden Motive auf den Kopf-, Vorder- und Unterschnitt gedruckt. Ich bin sehr gespannt, wie die Hersteller, Grafiker und Gestalter mit diesem tollen Trend spielen werden. Einen praktischen Nutzen hat der bunte Schnitt in dieser Art nicht, aber er sieht gut aus. Und nun kann man die Bücher auch mit dem Rücken nach hinten gedreht im Regal stehen haben. Fein!

Mittwoch, 19. September 2012

Bibliophile Momentaufnahmen – Kalenderwoche 38


Letzte Woche war ich verreist. Am Vormittag, bevor das wilde Kofferpacken losging, stürmte ich erst zum Friseur, dann in den Buchladen, dann zur Arbeit, dann zur Weihnachtsfeier.

Die neue Frisur war nötig für die Hochzeit am Wochenende, die Arbeit war hektisch und spannend. Das erste Mal musste ich für meine Jobs mehrere Urlaubsübergaben organisieren. Und die Weihnachtsfeier meiner Redaktion, die fällt immer in den Sommer. Für das Team ist die Zeit des Sommerlochs doch wesentlich besser geeignet für eine Weihnachtsfeier als der Dezember an sich, mit seinen vielen Festen, Feiern und Gottesdiensten, zu denen wir in der kalten Jahreszeit gehetzt eilen.

Und der Buchladen? Der war dringend nötig, denn eigentlich hatte ich mich unsäglich geärgert. Darüber, dass ich beim großen Online-Händler bestellt habe, weil ich dachte, ich würde es nicht mehr in die Stadt zum Einkaufen in den Buchladen schaffen. Aber da Amazon derzeit nicht mehr pünktlich liefert, kam mein Urlaubsbuch nicht rechtzeitig an (an dem Vormittag war der dritte Tag um, ohne das eine Versandbestätigung kam). Ich war selbst Schuld und mag mich nicht in die Reihe von Lesern einreihen, die nur am Jammern sind, weil die DHL-Boten nicht kommen (von Hermes sprechen wir mal lieber nicht). Stattdessen hoffte ich, mein Exemplar spontan doch noch im Buchladen mitnehmen zu können, um die Amazon-Bestellung grimmig zu stornieren.

Mein Wunschbuch hatten sie nicht im Regal, dafür aber zwei andere Bücher, denen ich nicht widerstehen konnte. Und so kam es, dass ich das erste Mal seit Jahren (!) einen ungeplanten, undurchdachten Bucheinkauf tätigte, ohne mich vorab online über die Bewertungen zu informieren. Und es war so schön, sich einfach durch die bekannten Abteilungen durch die bekannten Angebote treiben zu lassen, das mitnehmend, was ohnehin schon länger auf der unendlich langen Liste der Wunschbücher im Kopf hartnäckig prangt. Ohne Stress, ohne Ärger, ohne auf die Konsequenzen zu achten. Ein hemmungsloser Lustkauf, entspannend und herrlich Urlaubseinstimmend. Das werde ich ab jetzt jedes Mal vor dem Kofferpacken erledigen. Das Ergebnis jedenfalls ist ein Erfolg: Meine Urlaubsbücher sind schon längst verschlungen und Geschichte.

Montag, 17. September 2012

Urlaub ohne Kafka


Seit meinem letzten richtigen Urlaub sind inzwischen wieder zwei Jahre vergangen. Damals waren Wortschatz und ich in Weimar und besuchten Goethe und Schiller. Unser Urlaub fing dieses Mal allerdings mit einer Hochzeit an: JJ heiratete! HK war Trauzeugin und als langjährige Freundin im Dreiergespann sorgte ich gemeinsam mit Wortschatz für die Hochzeitsfotos. Dazu reisten wir vor über einer Woche nach Bad Hersfeld. Die Stadt kannte ich bislang nur als Standort von Amazon und Libri mit DHL- und Hermes-Zentren.


Umso überraschter war ich, als ich die romantische Seite von Bad Hersfeld entdeckte. Die Altstadt erinnerte mich vom Grundriss her ein wenig an Lübeck, nur waren die kleinen Straßen nicht so verwinkelt und verträumt wie die der Marzipanstadt. Dafür fuhr Bad Hersfeld zwischen den romanischen Einflüssen die schweren Geschütze einer modernen Großstadt mit einem Shopping-Center im Herzen auf. Besonders beeindruckend war die Stiftsruine, die die größte romanische Kirchenruine in Europa ist. In dieser Kulisse finden jedes Jahr die Bad Hersfelder Festspiele statt.


Besonders schön war der Kurpark im Westen der Stadt. Leider waren viele Beete abgeblüht und die Bäume hatten noch nicht ihr hübsches Herbstkleid an, weshalb sich die Pracht des Parks im Sommer nur erahnen ließ. Unser Hotel in der Nähe war sehr gemütlich: Mit Abstand bewohnten wir hier das größte Zimmer, das wir jemals im Urlaub gebucht hatten, mit ebenerdiger Terrasse, kitschigen Putten und zwei Badezimmern. Morgens durfte ich zwischen mehr als zwanzig Cornflakessorten wählen und nachmittags gab es umsonst Kuchen. Jeden Abend thronte ein adipöser, fauler Kater auf dem Dach unseres Marzipanautos.


Die ersten Fotos vermitteln schon einen Eindruck von der Hochzeit, die sich über zwei Tage erstreckte. JJ und MW ritten auf ihren Pferden T und P zum Standesamt im Kurpark, ein ganzer Reitertross mit Cowboyhüten trabte hinterher. Wortschatz und ich hatten die weniger grazile Rolle, mit Kameras und schweren Rucksäcken vor den Pferden herzusprinten. Insgesamt haben wir mehr als 2000 Fotos zusammen gemacht. Nur wenig Motive waren doppelt, da wir unsere Objektive geschickt aufteilten und nie dieselben Blickwinkel nutzten. Im Standesamt stand er vorne rechts hinter dem Beamten mit einem Teleobjektiv und machte Detailaufnahmen, ich stand vorne links mit meinem Standard und behielt den Überblick. Zwischendurch warfen wir uns grinsende Blicke zu.


Statt kitschiger Hochzeitsfotos kamen so viele schöne Momentaufnahmen heraus. Während der anschließenden Feier auf dem Reiterhof blieben wir im Hintergrund und fotografierten aus dem Hinterhalt viele schöne Augenblicke, natürlich und ungestellt, so wie die Hochzeit auch gewesen ist. Statt steifer Reden fühlten wir uns wie unter Freunden, statt einem Hochzeitswalzer gab es nachts ein Theaterstück mit Pferden und Feuertänzern. Und statt Pumps war ich zwei Tage lang in Cowboystiefeln zum grünen Kleid unterwegs. Der Höhepunkt war das berittene Bogenschießen, das das Brautpaar JJW und MW am letzten Tag organisierten. Ich blieb zwar auf dem Boden, probierte den Umgang mit Pfeil und Bogen aber auch mal aus. Und war gar nicht so schlecht. Der zweite Pfeil steckte im Pfosten hinter der Scheibe mit dem Rehmotiv, der dritte Pfeil ging glatt durch die Kehle des Tieres.


Nach Bad Hersfeld und der Hochzeit nutzten wir den Kilometervorsprung und fuhren weiter in den Osten hinein. Unsere Ferienresidenz hieß Sebnitz und unser Hotel war nur 500 Meter von der tschechischen Grenze entfernt. Die Seidenblumenstadt wartete mit einem urigen Hotel auf uns: Dank eines Angebots residierten wir in einer Suite mit Seidentapete, Spiegeln mit goldenen Rahmen, pompösen Möbeln aus dunklem Holz mit vergoldeten Schmuckelementen und einer freistehenden Badewanne mit goldenen Löwenfüßchen. Wortschatz und ich wären fast rückwärts aus unserem Gemach gefallen. Und wir waren bestimmt vierzig Jahre jünger als die jüngsten Gäste in dem Hotel. Wir fühlten uns wie Könige in einem längst vergessenen Reich.


Sebnitz war so gar nicht unsere Stadt. Bad Schandau oder Königsstein erschienen während unserer kurvigen Fahrten wesentlich attraktiver und vor allem belebter. Wir brauchten nicht mal eine Stunde, um zu Fuß alle Sehenswürdigkeiten der Stadt zu erkunden. Alles war lieblich, verträumt, romantisch, dann verfallen, dann leer, ab und an wüst. Außer dem Seidenblumenmuseum, dem schönen Einbezug der Sebnitz (dem Fluss), einigen kleinen Geschenkelädchen und einem Rossmann und Edeka auf dem Marktplatz bot die Stadt nichts. Ab spätestens 18 Uhr waren die Straßen leer gefegt, nur Touristen irrten umher, dazu ein paar Katzen, und die Polizei, die gelangweilt Streife fuhr. Schon am ersten Tag ergriffen wir die Flucht.


Unser Weg führte uns zunächst nach Dresden. Am heißesten Tag hechelten wir durch die wunderschöne Altstadt um die Frauenkirche herum, starben unzählige Tode und hatten keine Lust auf Fotos. Wir aßen in der Mittagshitze Rippchen in einem kleinen Restaurant nahe der Elbe, tigerten um die Frauenkirche herum, waren erschlagen von der Pracht um uns herum und ließen uns schließlich in eine Rikscha fallen. Der freundliche Führer radelte uns sächselnd durch die Stadt, beantwortete wissend und voller witziger Anekdoten unsere Fragen, zeigte Bilder vom Krieg und dem zerstörten Dresden und wir staunten über die kluge Pracht der aktuellen Neubauten. Alles passte, alles war schön und selbst die modernen Elemente in der Architektur stimmten mit den ursprünglichen Häusern überein. So eine Harmonie habe ich selten in einer anderen deutschen Stadt erlebt. In Gedanken an den Fürstenzug, die Fliesen und Phosphorbomben fuhren wir abends zurück nach Sebnitz und bekamen im Hotel den leckersten Flammkuchen der Welt aufgetischt.


Prag war unser nächstes Ziel. Viel zu früh, allerdings mit Lunchpaketen ausgestattet, fuhr uns ein Bus in die goldene Stadt. Wir erwischten eine fitte Rentnertruppe mit einigen wenigen Ausnahmen wie uns und einen gesprächigen Reiseleiter, der sein Gehalt pro gesprochenes Wort berechnet bekam. Er plapperte die ganze Fahrt nach Prag, danach natürlich die Führung, zum Schluss dann wieder die Fahrt zurück nach Bad Schandau durch. Mein Kopf war voller Zahlen. Ich lechzte nach Geschichten und schlief ein.


Tschechien hat mich wahnsinnig frustriert. Entwickelte ich da etwa so eine Art Hassliebe wie Kafka einst? Ich war verblüfft über die Veränderung der Städte kurz nach der Grenze. Unser Reiseleiter bezeichnete die Ramschmärkte ironisch als Klein-Hanoi. Direkt nach dem Grenzübertritt waren die Straßen kaputt, die Gehwege fehlten, von Fahrbahnmarkierungen ganz zu schweigen. Die Häuser sahen heruntergekommen aus, die Gärten waren ungepflegt und mit Zeug vollgestellt, die Leitungen verliefen alle wirr überirdisch. Die Beschilderungen versprachen Zahnärzte, die günstiger waren. Hinter einer Biegung, entlang einer besonders nach Industrie aussehenden Straße war sie dann plötzlich da: Die Elbe und ihr gewaltiges Tal, dem (laut Reiseleiter) Lago Maggiore Tschechiens. Das war der schönste Anblick von Natur, den ich auf unserer Reise erlebt habe. Nach der nächsten Abfahrt folgte wieder der Kontrast: Riesige Werbeschilder prangten an den Autobahnen, die Mautstationen ließen unseren Bus beständig piepsen und auf der Rast an einer Tankstelle sahen wir uns mit Kronen konfrontiert, bezahlten problemlos mit dem Euro zu einem Kurs von 1:24 und suchten an der Colaflasche vergebens nach dem Zeichen für Pfand. Wir Deutschen!


Nach dem ersten Kulturschock ließ ich mich in Prag fallen, diese Stadt, die ich mir wegen Kafka immer irgendwie dunkel und dreckig vorgestellt habe. Im Palast bewunderten wir die große Kirche, die gepanzerten Škodas, die Gärten, die Soldaten, die grünen Straßenlaternen, die jede Nacht noch von einem Nachtwächter entzündet werden, das Schwarzbacher Haus, in das ich total verliebt war, und den Ausblick über diese gewaltige Stadt. Natürlich spielten die Musiker passenderweise Smetanas Moldaulied, bevor sie von dem Schichtwechsel der Soldaten unterbrochen wurden. Unten bewunderten wir Sankt Nikolaus, den Hradschin, die Karlsbrücke mit dem heiligen Nepomuk, die Innenstadt, das Judenviertel, das Altstädter Rathaus. Alles kostete Eintritt, inzwischen sogar das Goldene Gässchen. Eigentlich war das ein festes Ziel von mir, doch in der Mittagspause am Rathaus waren wir zu weit davon entfernt. So erkundeten wir die Stadt relativ planlos. Erst später bemerkte ich, dass sich Kafkas Geburtshaus ganz in der Nähe befunden hat. Leider kam diese Info zu spät für einen Besuch, weshalb ich mich immer noch gräme.


Prag hat mich als Stadt unheimlich fasziniert und zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich mich wirklich hilflos in der Fremde, alleine in einer Stadt, in der ich wirklich gar nichts verstand. Die Sprache war mir fremd, ich konnte mir nichts herleiten oder zusammenreimen, obwohl ich fünf Sprachen spreche. Keiner konnte Deutsch, viele nur eine Handvoll Englisch. Durch diese frustrierende Sprachlosigkeit setzte bei mir sehr schnell das Gefühl ein, einen richtigen Urlaub zu erleben. Zurück im Hotel schritten wir pompös und totmüde ins Bett, rückten schläfrig unsere Kronen zurecht und freuten uns, nicht ausgeraubt worden zu sein.


Regen am Tag, der für das Wandern eingeplant war? Wanderschuhe mit Luftlöchern? Diese Voraussetzungen trieben uns auf die Festung Königsstein und in eine Führung in den Tiefen der Kasematten (mein neues Lieblingswort neben adipös). Die Burg ist eine der größten Bergfestungen in Europa und mindestens 400 Jahre alt. Die Festung Königsstein wurde als Militärstandort benutzt, aber niemals eingenommen (außer von einem unglücklichen Schornsteinfeger). Mit 152,5 Metern befindet sich hier der zweittiefste Brunnen Europas. Umgeben von Nebel wanderten wir die zwei Kilometer entlang der Burgmauern. Der Wetterbericht hatte selbst im Nachhinein nicht gestimmt. Statt Regen blieb es beim Nebel. Im Musketier-Restaurant gönnten wir uns Erbsensuppe und Sauerbraten und stießen in mittelalterlicher Umgebung mit einem Waldmeistergebräu an.


Am letzten Tag wanderten wir zur Basteibrücke bei Rathen. Um uns herum zeigte sich die sächsische Schweiz mit dem Elbsandsteingebirge von seiner strahlenden Seite. Wir konnten mit dem Fotografieren von Steinformationen gar nicht mehr aufhören, zahlten Eintritt und durften uns die Felsenburg Neurathen ansehen. Die Ruine zeigte das, was von der mittelalterlichen Felsenburg übrig geblieben ist. Die Vorstellung, dass sich hier auf dem Platteau eine Burg befunden hat, war faszinierend, die Aussicht war toll. Allerdings bot  der Zugang, für den wir immerhin Eintritt bezahlt hatten, keinerlei Informationswert außer einigen Hinweisschildern, welche Funktion welche Einkerbung erfüllt hat. Keine Erklärungen, keine Tafeln, es blieb bei der Aussicht auf dem Wehrgang, und der Vorstellung, wie es einst gewesen sein könnte. Es folgten: 499 Kilometer Heimreise und das Gefühl, das noch eine Woche Urlaub doch ganz in Ordnung wären.


Mittwoch, 12. September 2012

Bibliophile Momentaufnahmen – Kalenderwoche 37


Grundlagen-Literatur. Das ist die erste Fuhre an Büchern, die ich für meine Magisterarbeit lesen möchte. Ja, auch ich muss mit meinem wundervollen Studium fertig werden. Wehmütig bin ich nur wegen Buchwissenschaft (ein wenig); Komparatistik hingegen werde ich keine einzige Sekunde hinterher trauern. Doch spätestens nachdem die Bachlor- und Masterabschlüsse auch unser Institut erreicht haben, veränderte sich auch die Seele der Buchwissenschaft. Das und meine vielen Nebenjobs ließen mein Studium im Laufe der Zeit immer unwichtiger werden. Doch irgendwann kamen die ersten Jobangebote, die ich ablehnen musste. Nun kam das dritte Angebot, das ich nicht ablehnen möchte. Also heißt es: Lesen-lesen-lesen. Schnell-schnell-schnell fertig werden. Um ein überfälliges Kapitel abzuschließen und ein neues beginnen zu können.

Mittwoch, 5. September 2012

Bibliophile Momentaufnahmen – Kalenderwoche 36


Hin und wieder stolpert man über ganz besondere Buchhandlungen. Zu ihnen gehört auch die Berliner Buchhandlung ocelot (Brunnenstraße 181), die in jeder Hinsicht einzigartig ist. Die typografischen Spielereien, die modernen Regale – gradlinig, schick und trotzdem gemütlich – die verwinkelten Ecken, die hypermodernen Schultische (so scheint es) in der Mitte des Raumes, die offene Decke mit Berliner Industriecharme, der Kaffeeduft, die gute Auswahl exzellenter E-Reader, die persönlichen Fotos, Gemälde und Zeichnungen und einfach nur der spürbare Wille, etwas bewegen zu wollen und gemeinsam mit der fortschreitenden Digitalisierung neue Ideen zu entwickeln. Viel Erfolg Dir weiterhin, lieber FK!

Montag, 3. September 2012

Hotlist 2012 – Die Shortlist

Aus 145 Einsendungen entstand eine Longlist aus 30 Titeln, die für den Preis der unabhängigen Verlage nominiert waren. Nun hat sich die Anzahl der Nominierten auf eine Shortlist erneut reduziert: Drei Titel bestimmte das Publikum, sieben die Jury. Die Preisverleihung findet während der Frankfurter Buchmesse (Freitag, 12. Oktober 2012) statt, dieses Mal in neuer Kulisse im Frankfurter Literaturhaus.

Die Shortlist besteht aus:
Jeffrey Yang: »Ein Aquarium« (Berenberg Verlag)
Miklós Vajda: »Mutterbild in amerikanischem Rahmen« (Braumüller)
Peter Gizzi: »Totsein ist gut in Amerika« (luxbooks) 
Angelika Meier: »Heimlich, heimlich mich vergiss« (diaphanes) 
Tor Ulven: »Dunkelheit am Ende des Tunnels« (Droschl) 
Michèle Roten: »Wie Frau sein« (Echtzeit) 
Lukas Meschik: »Luzidin oder Die Stille« (Jung & Jung)
Stevenson/Wagenbreth: »Der Pirat und der Apotheker« (Peter Hammer) 
Tamta Melaschwili: »Abzählen« (Unionsverlag) 
Helon Habila: »Öl auf Wasser« (Verlag Das Wunderhorn) 

Rausgeflogen sind die Bücher aus den Verlagen Rogner & Bernhard, Der gesunde Menschenversand, Lars Müller, Klöpfer & Meyer, Transit, mare, Haffmanns & Tolkemitt, Bilger, Elfenbein, Rotpunkt, Edition Rugerup, Limmat, Dörlemann, Schöffling, Antje Kunstmann, Jacoby & Stuart, Secession, Tally-Ho!, Edition Nautilus und Folio.

Die Shortlist spiegelt eine breite Auswahl wieder: Gedichte, Romane, Geschichten und ein Protokolle lassen viel Spielraum für Experimente und ungewöhnliche Themen. Doch jetzt freu ich mich erst einmal auf die Frankfurter Buchmesse und auch auf die Preisverleihung am 12. Oktober. Hoffentlich wird das Jurymitglied Daniela Strigl ebenfalls im Publikum sitzen. Und ich bin auf die Kulisse gespannt, denn bislang kann ich mir gar nicht vorstellen, wie das Frankfurter Literaturhaus und die Independent Verlage zusammenpassen könnten.