Montag, 21. Februar 2011

»Alle mal herhören!« – Vorlesewettbewerb 2011

Kennst du das Märchen »Sechse kommen durch die ganze Welt«? Es handelt von einem Soldaten, der fünf Freunde mit ungewöhnlichen Fähigkeiten trifft und mit ihrer Hilfe und seiner klugen List knöpft er einem größenwahnsinnigen König seinen gesamten Staatsschatz ab. Das ist mein Lieblingsmärchen von den Brüdern Grimm. Als ich vor vielen Jahren in der sechsten Klasse war, las ich es laut meiner Klasse vor. Ich hatte viele Stunden geübt und mir im letzten Moment etwas höchst Merkwürdiges in den Kopf gesetzt: Die Textstelle, in der die Fähigkeiten der Männer aufgezählt werden, las ich in einem leiernden Tonfall vor. Blöde Idee, denn von meiner Deutschlehrerin gab es deshalb nur eine 2- und mein Wunsch, beim Vorlesewettbewerb des Börsenverein des Deutschen Buchhandels meine Klasse zu vertreten, war je zerplatzt. Macht aber nichts, denn dem Wettbewerb wohne ich nun in einer ganz anderen Funktion bei.

Zwei Jahre lang saß ich als Schülerin in der Jury des 1959 gegründeten Vorlesewettbewerbs. An unserem Gymnasium setzte sich die Jury aus einem Lehrer, jemandem aus der Elternvertretung und einem Schüler zusammen, und meine ehemalige Mathematiklehrerin erinnerte sich an mich als eine Schülerin, die gerne las und Geschichten schrieb. So fand ich mich in einem Musiksaal wieder und wählte gemeinsam mit zwei anderen den Sieger des Schulwettbewerbs aus. Jedes Jahr nehmen mehr als 600 000 Schüler aus der sechsten Jahrgangsstufe an dem Vorlesewettbewerb teil. Wir gehörten zu einer von 7 300 Schulen, die an dem größten, bundesweiten Wettbewerb für Schüler teilnahmen.

Warum organisiert der Börsenverein des Deutschen Buchhandels so eine Veranstaltung? Ein Ziel ist es, dass die Kinder sich schon früh mit Literatur auseinandersetzen und sie für sich entdecken. Das Vorlesen des Lieblingsbuchs in der Klasse soll Spaß machen und den Freunden neue Lesetipps geben. Zudem ist der Ansporn groß, den Wettbewerb zu gewinnen und zunächst die Klasse, später die Schule, dann den Kreis, den Bezirk und schließlich vielleicht sogar das Bundesland zu vertreten. Da der Bundespräsident (in diesem Fall Christian Wulff) die Schirmherrschaft für den Vorlesewettbewerb hat, findet die Abschlussveranstaltung mit den Landessiegern im Schloss Bellevue in Berlin statt.

Gestern saß ich nach vielen Jahren wieder in der Jury – dieses Mal ging es allerdings um den Kreisentscheid. Spannend! Ich freute mich darauf, die Unterschiede zwischen den Klassen- und den Schulsiegern zu sehen. Viel verändert hat sich allerdings nicht. Nur die Auswahl der Lektüre war anders und ich erfreute mich vorgefertigter Wertungsbogen. Fein – die Optimierung des Workflows hat auch den Börsenverein erreicht.

Zusammen mit der Mitbegründerin eines Lesevereins und einer Buchhändlerin nahmen wir im Tagungsraum einer Jugendstilvilla Platz, die ein Kulturzentrum mit einer Buchhandlung beherbergt. In dem weißen Raum eroberten Eltern, Lehrerinnen, Verwandte und Freunde schnell die Stühle für sich. Für die zwölf Jugendlichen gab es einen strengen Ablaufplan. Zunächst stellte jeder Teilnehmer in wenigen Sätzen sein Buch vor, erzählte etwas zum Autor und ordnete die Textstelle in den Buchkontext ein. Dann musste drei Minuten lang gelesen werden. Nach sechs Schülern gab es eine kurze Pause für die Ohren und die Kinder stärkten sich mit Obst, Wasser oder bunten Fastnachtskreppeln mit Hütchen und Knutschmund. Die Nervosität jedoch war so groß, dass das vorbereitete Büffet unberührt blieb. Nachdem die letzten Kinder ihre Textstelle vorgetragen hatten, gab es eine längere Pause und die Jury zog sich zurück. Gemeinsam ordneten wir unsere Gedanken und Notizen, besprachen die Leistungen der Teilnehmer und zählten die Punkte zusammen.

Worauf kommt es an? Auf Versprecher? Schauspielerische Darbietungen? Einen korrekten Zeitplan? Nein, eher weniger. Die Schlüsselwörter sind schlicht und einfach Technik, Gestaltung und Verständnis. Wird der Text sicher und flüssig vorgetragen? Ist die Aussprache deutlich, das Tempo angemessen und sitzen die Betonungen an der richtigen Stelle? Stimmen diese Voraussetzungen, gibt es viele Punkte für die Lesetechnik. Wesentlich anspruchsvoller und vor allem fantasievoller geht es bei der Textgestaltung zu. Wird die gruslige Szene im Buch gekonnt vermittelt und wispern die Hauptfiguren in den Dialogen tatsächlich, wenn es gefordert wird? Wirkt das Schauspielern allerdings übertrieben und unnatürlich, gibt es Punktabzüge! Das Textverständnis bezieht sich auf die Buchvorstellung vor dem Lesen, die Auswahl der vorgelesenen Stelle und den Zeitplan. Dieses Kriterium spielt vor allem im zweiten Teil des Wettbewerbs eine große Rolle, wenn die Kinder einen komplett fremden Text vortragen sollen.

Einige konnten lesen. Andere Kinder hingegen beteten ihre Texte fast auswendig herunter – das merkte man bei schwachen Lesern, selbstbewusste Schüler hingegen glänzten ... bis der fremde Text kam. Hier brachen einige komplett zusammen, stotterten, scheiterten an langen, ungewohnten Wörtern. An dieser Aufgabe scheiterten die reinen Fleißleser und machten den richtigen Erzählern Platz, die den Text mit einem Blick und viel Gefühl erahnten und vorausschauend alle Feinheiten, Anklänge und Stimmungen begriffen. Diesen Rück- oder Fortschritt zu beobachten fand ich enorm spannend. Eine Hauptschülerin schnitt unheimlich gut ab. Ein blonder Junge, der beim vorbereiteten Text vor Aufregung so klang, als käme er direkt vom Fußballplatz, konnte beim fremden Text endlich aufatmen. Es gewann aber jemand, der die Dialoge vorausschauend ausbaute und die Fettgeschwulste einer dicken Tante so genüsslich beschrieb, dass ihm die Überraschung selbst ins Gesicht geschrieben stand.

In drei Wochen bin ich wieder am selben Ort, sitze vielleicht am selben Platz, mit leeren Bewertungsbögen in der Hand, einem roten Klemmbrett und einem roten Kugelschreiber. Neben mir werden sich die Papiere mit gekrakelten Notizen türmen und das Glas mit Wasser wird leise gurgeln. Und ich werde ihnen lauschen – den Geschichten von Christa Ludwig, Isabel Abedi, Kai Meyer und Uwe Timm. Mal schauen, ob ich vielleicht wieder von einem Potter überrollt werde, wie ich es vor vielen Jahren massenhaft erlebt habe. Doch vor allem werde ich wegen den Kindern da sitzen und mir gespannt anhören, wie ihre Stimmen die Buchseiten mit ihren toten Buchstaben zum Leben erwecken werden.

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