Donnerstag, 17. Februar 2011

Rezension – Friedmar Apel: »Nanettes Gedächtnis«

Im Rahmen eines Seminars musste ich Friedmar Apels Roman »Nanettes Gedächtnis« lesen. Ich kannte weder den Autor, noch den Titel und sprang ins kalte Wasser. Das Eintauchen in die Welt der Synästhetikerin Nanette, die in einer Psychiatrie sitzt und versucht, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern, hat sich gelohnt. 

In ihrem Elternhaus erlebt sie die Streitigkeiten ihrer Eltern mit. Nanettes Mutter hasst sie und lässt den Frust an ihrem Vater aus, der als Geisteswissenschaftler in ihren Augen nichts wert ist. Nanette beschreibt, wie sie ihre Kindheit in Berlin erlebt; wie ihre Fähigkeit, Worte, Zahlen, Buchstaben und alle Sinneswahrnehmungen farblich wahrzunehmen, sie in der Grundschule beeinflusst und wie sie sich während ihrer Ausbildungszeit als Buchhändlerin sämtlich Buchtitel merken kann. Der Leser springt mit ihr von einem Berliner Lokal zur nächsten Szene-Kneipe, erlebt mit ihr die Prominenten und die gesamte Kulturschickeria (von Max Frisch bis Udo Waltz) und lernt auch Nanettes ausschweifendes Liebesleben kennen. Sie lernt Dutschke kennen, der sich in sie verliebt. Sie fährt nach Frankfurt, wo ihr Vater eine Kunstausstellung organisiert hat, und ab hier fängt vielleicht der ganze Schlamassel an. Vielleicht auch schon früher.

Zwischen den Rückblenden (sie muss ihre Erinnerungen aufschreiben) analysiert Nanette gemeinsam mit dem russischen Psychiater Professor Luria ihren körperlichen und seelischen Zustand. Nach und nach kommt heraus, dass Nanette wegen eines Verbrechens in der Klinik sitzt, an das sie sich nur langsam erinnert.

Das Buch ist spannend aufgebaut – aus vielerlei Hinsicht. Das Thema Synästhetik ist exotisch, das Berlin der 80er/90er Jahre mit all ihren schillernden Persönlichkeiten und Anekdoten ist reizvoll. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu verschiedenen Szene-Kneipen, Bars, Literatursalons und zu berühmten Persönlichkeiten aus dem realen Leben. Das ganze Lebensgefühl wird in Nanettes Schilderungen lebendig.

Die Geschichte lebt aber vor allem durch die Hauptfigur Nanette. Sie ist undurchschaubar, bleibt zugleich authentisch. Interessant ist vor allem die Frage, wie zuverlässig Nanette als Erzählfigur ist – schließlich hat sie nach dem mysteriösen Unfall im Wachkoma gelegen, ist in einer psychiatrischen Klinik, nimmt Medikamente und wird wegen nicht identifizierten Störungen, Psychosen, Traumas therapiert. Wie klar und echt sind ihre Schlüsse, die sie am Ende zieht und zu radikalen Handlungen treibt? Einzig ihre ab und an sehr kindliche und einfache Sprache passen an einigen Stellen nicht zu dieser ansonsten intelligenten Gedächtniskünstlerin.

Friedmar Apel: Nanettes Gedächtnis (137 Seiten)
Suhrkamp Verlag, Februar 2009
ISBN-10: 3518420534
ISBN-13: 978-3518420539

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