Freitag, 10. August 2012

Vorsicht, Verwechslungsgefahr! (II)

Letztens musste ich wieder mal viele aktuelle Neuerscheinungen durchgehen, dieses Mal im Bereich Jugendbuch. Da ich nicht nur stupide ISBN-Nummern kopieren wollte, hab ich auch hin und wieder in die Klappentexte reingelesen. Und dabei ist mir etwas sehr witziges aufgefallen: Die meisten erste Sätze im Werbetext aktueller Jugendbuch-Bestseller hatten Satzkonstruktionen mit den Wörtern »bis«, »als« oder »doch (dann)«, die vereinfacht beschrieben eine Wendung in einer Handlung ankündigen. Seht selbst, wie meine Sammlung wahllos ausgewählter Titel aussieht:

Mit Romantik oder gar Leidenschaft hätte Bella ihren Umzug nach Forks, einer langweiligen, ständig verregneten Kleinstadt in Washington State, kaum in Verbindung gebracht. Bis sie den geheimnisvollen und attraktiven Edward kennenlernt.


Sophie ist gerade mit ihrer Mutter nach Kalifornien gezogen und eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Leben. Doch dann rammt sie beim Ausparken das Auto eines Jungen, der unglaublich charmant und gut aussehend ist.

Wie ein feuriger Blitzschlag ... ... fühlt es sich an, als Asher in Remys Leben tritt.

Für die sechzehnjährige Milla scheint die Zeit stehen zu bleiben, als sie an einem heißen Frühlingstag dem jungen Gondoliere Luca begegnet.

Lucinda Price ist 17 und den ersten Tag auf dem Internat, als sie ihn sieht: Daniel Grigori, den unglaublich attraktiven, aber auch unglaublich distanzierten Jungen, von dem sie sicher ist, dass sie ihn schon einmal gesehen hat.


Lady Katsa wird überall gefürchtet, denn sie hat die Gabe des Tötens. Doch sie ist es leid, ständig als Racheengel eingesetzt zu werden - und als sie dem geheimnisvollen Prinzen von Lienid begegnet, schöpft sie Hoffnung, mit ihrer Gabe auch Gutes bewirken zu können.

Zwischen Himmel und Hölle liegt nur ein Herzschlag. Als Frannie zum ersten Mal Luc begegnet, fehlen ihr die Worte. Dabei ist sie sonst nicht auf den Mund gefallen. Doch der Neue sieht einfach unverschämt gut aus: ein echter Drauf­gänger mit dunkler Aura – genau ihr Typ.

Auch Lena steht dieser kleine Eingriff bevor, kurz vor ihrem 18. Geburtstag. Danach wird sie geheilt sein. Sie wird sich nicht verlieben. Niemals. Aber dann lernt sie Alex kennen.

Als Jade, das Mädchen mit den
flussgrünen Augen, den schönen und fremdartigen Faun kennenlernt, ist ihre Welt bereits am Zerbrechen.

Als Nora ihm zum ersten Mal begegnet, weiß sie gleich, dass seine
tiefschwarzen Augen mehr verbergen als offenbaren: Patch wirkt geheimnisvoll, fast unheimlich auf sie, und Nora ist zutiefst fasziniert von seiner rätselhaften Ausstrahlung.

Verliebt war die sechzehnjährige Tori schon hunderte Male. Doch noch nie hat sich ihr Angebeteter vor ihren Augen in schimmernde Luft aufgelöst. Cam Chase, mit seinen
tiefgrünen Augen, verbirgt ein Geheimnis vor ihr. Doch was steckt hinter seinen wandlerischen Fähigkeiten?

Ob die Sterne wussten, dass diese Nacht Mias Leben verändern würde? Sie erleuchteten den ganzen Himmel, als Iason mit den anderen Flüchtlingen auf der Erde landete. Jetzt steht er vor ihr. Eine dunkle Stille geht von ihm aus, doch seine
graublauen Augen scheinen ins Innerste von Mia zu blicken.

Vor etwa einem Jahr war ich frustriert. Mit Büchern, mit der Literatur, mit dem Buchmarkt. Ich sagte zu meinem Verlagskollegen (der wie ich Literaturwissenschaftler ist): Ist das nicht unglaublich zermürbend? Irgendwann wiederholt sich doch jede Geschichte. Ich begann nur noch Bezüge, Motive und Personenkonstellationen zu sehen, die in einem unendlichen Brei immer wieder auf dasselbe Ende hinausliefen. Ich dachte an eben diesen Verleger, der mir erzählt hatte, dass er seit Jahren keine Bücher mehr lese und nur noch eins nach dem anderen anlese (so kamen wir zu meiner Beschreibung). 

Ich dachte aber auch an einen Zeitungsartikel, den ich vor Jahren gelesen habe. Der beschreibt, dass Menschen eigentlich gerne in ihrem Genre bleiben und so immer wieder dieselben Geschichten erleben wollen. Wer einmal sein ganzes Leben lang historische Liebesromane gelesen hat, wird sich im Alter schwer zu einem Krimileser umerziehen lassen. 

Und dann entdeckte ich diese Sätze aus den Klappentexten, die genau dieses Phänomen, diesen Zeitgeist beschreiben. Ein Trend führt zur nächsten Modeerscheinung: Erst die Vampire, dann die Werwölfe, dann die Engel und Dämonen, dann die Zombies. Und selbst wenn die Protagonisten sich ändern, bleibt die Konstellation der Figuren doch immer gleich und befriedigt so eine junge Zielgruppe, die genau das lesen will, was der Buchmarkt ihnen liefert.

Es sind Geschichten von jungen Mädchen, idealerweise 17 Jahre jung (Identifikationsmöglichkeit ist gegeben und die Grauzone zwischen Jugendlichen und Erwachsenen wird miteinbezogen), die entweder denken, sie wären zu normal. Oder die sich unnormal und sich deshalb als Außenseiter fühlen. Dann tritt der Wandel in Form eines Jungen ein. Dieser Fremde ist stets geheimnisvoll, unheimlich, mysteriös, rätselhaft und sieht sehr gut aus. Es folgt eine unwiderstehliche Faszination der Charaktere füreinander. Wie die Geschichte weitergeht, hängt von der Rollenverteilung ab. Ist das Mädchen wirklich normal und nicht besonders, dann ist der fremde Junge anders und zieht das Mädchen in seine unnormale Welt. Entweder er ist ein anderes Wesen oder hat besondere Kräfte. Es kommt zu einer Einführung in die fremde Welt, es kommt zu einem Konflikt mit der Welt und ihren Restriktionen, die die Liebe zwischen dem Mädchen und dem Jungen prüft. Danach folgt ein schönes Ende.
Es kann aber auch sein, dass das Mädchen nicht normal ist und der fremde Junge diese Veränderungen deutlich macht. Er als Mensch erkennt das Unmenschliche in ihr. Entweder hat er das Wissen, sie aufzuklären (er spielt eine Rolle in dieser magischen Welt) oder sie will verhindern, dass er sich aus ihrer neuen Welt entfernt und weiht ihn in das Geheimnis ein. Wieder kommt es zu Konflikten zwischen ihrer und seiner Welt, die Liebe jedoch bleibt bestehen.

Die Augensymbolik spielt gegenwärtig eine immens große Rolle: Es kann als sehendes, wissendes, erkennendes Auge interpretiert werden. Bella sieht, dass Edward anders ist. Seine Augenfarbe verändert sich zudem als sichtbarer Beweis. Als mystisches und religiöses Symbol durchdringt das Auge alle Geheimnisse und weiß alles: Als wissendes Auge blickt es über die Geheimnisse, die verborgen sind, hinweg. Dadurch gewinnt der Sehende Macht und Stärke. Sämtliche Charaktere sind deshalb fasziniert von den geheimnisvollen Augen des Fremden und umgekehrt. Ist der Junge nicht von dieser Welt, erkennt das Mädchen in den Augen dieses Geheimnis. Ist das Mädchen nicht normal, erkennt es in den sanften, menschlichen Augen des Jungen ihre eigene Fremdheit. Natürlich erkennen sich das Mädchen und der Junge gegenseitig in ihrem Blick: Ihre Augen sind der Spiegel ihrer Seele und indem sie sich ganz erkennen, schafft das eine Bindung, die keinerlei Erklärung oder Begründungen braucht: Es ist die unsterbliche Liebe.

Mit dieser Zuordnung habe ich für mich eine Begründung gefunden, warum mich der Buchmarkt vor gar nicht so langer Zeit unglaublich frustriert hat. Letztendlich sind die gegenwärtigen Bestseller alles Spiegelungen von tausend anderen zuvor gelesenen Geschichten. Teilweise brauchte die Liebe beider Protagonisten sogar so wenig Begründung, dass die Bücher überhaupt keinen Tiefgang hatten und die Figuren platt und oberflächlich wurden. Die Entwicklung war selten überraschend, denn das Schema war immer gleich. Dabei war es egal, ob ein Werwolf oder ein Engel die Hauptfigur spielte, denn jede Welt brachte seine eigenen Restriktionen mit sich, die wiederum (Achtung! Spoiler!) immer zu demselben Ergebnis führte: Ein perfektes, langweiliges (unendliches) Leben mit der großen Liebe, variabel ausgedehnt auf eine beliebige Anzahl von Büchern.

Klar wird damit ein Markt bedient und Leser herangezogen, die genau das lesen wollen, was sie bekommen. Ich hingegen bin ein Leser, der alles liest und jedes Genre annimmt. Ich bin offen für Bestseller, für Indie-Literatur, für Klassiker, für Trash, für ernste Gegenwartsliteratur, blutige Thriller, historische Romane, schnulzige, französische Liebesgeschichten, Vampirbücher (ich bin auf Dracula und Stephen King geprägt), Abenteuerromane, Internatsgeschichten, die großen Amerikaner, die Russen, die Südamerikaner, die Autoren aus dem Balken, die Schriftsteller aus Island: Kurzum liebe ich die Abwechslung, wie verschiedene Länder, Zeiten und Kulturen mit verschiedenen oder gleichen Themen umgehen und bin offen für das Neue. Ein, zwei Jahre habe ich zwischen Nabokov, Shakespeare, Samuel Beckett, Don DeLillo, Tolstoi, Baudelaire, T.S. Eliot, E.T.A. Hoffmann, Marcel Proust, Émile Zola, Mark Danielewski und anderen Büchern, die mich forderten, in den freien Stunden gerne bei den erwähnten Büchern Freiheit gesucht. Es waren einfache Bücher, die in einer Nacht runtergelesen werden konnten, die bestätigten, dass ich als langsam lesende Leseratte mehr als 50 Bücher im Jahr schaffe. Aber mit der Zeit frustrierten sie mich so sehr, dass ich mich nun nach der Zeit sehne, die nach meiner Magisterarbeit kommt. Wenn ich wieder die Zeit finde, mich mit anspruchsvoller Literatur, unglaublichen Dialogen, überraschenden Wendungen und tiefgründigen Figuren auseinander zu setzen. 

Mal schauen, wie der Markt für Jugendbücher in zehn Jahren aussehen wird. Wenn den Autoren nach Wurmmenschen, Außerirdischen und sämtlichen, aufgewärmten Märchenprotagonisten keine phantastischen Wesen mehr einfallen, müssen sie ja an den Handlungen etwas verändern. Vielleicht.

1 Kommentar:

  1. Ja, ich stimme dir zu, dass die Protagonisten und der Plot in Jugendbüchern Einheitsbrei sind.

    Für mich ist da der Ausweg über das Setting, in Form von absolut unterschiedlichen Gesellschaftsformen (Dystopien), die meist auch starke Charaktere erzwingen, bzw. mindestens einen spannenden Plot besitzen, der bisweilen auch mit Tiefgründigkeit gewürzt ist.

    Dass die Exposition mit einer Wendung endet, halte ich jetzt vielleicht nicht für ein aufregendes Schema, aber wenn der Plot originell ist, kann man doch darüber hinwegsehen. Gerade die Identifikationsmöglichkeit ist durch einen so normalen Einstieg möglich, den man als ältereren viel belesenen Menschen möglicherweise nicht braucht. Aber ich kann mir doch vorstellen, dass selten Lesende dadurch Vorteile haben.
    Dass die Kreativität und der Mut fehlt, andere Protagonisten und Geschichten zu (be)schreiben glaube ich nicht, aber ob derartiges verlegt werden würde? Daran zweifel ich sehr stark.

    Ich könnte mir auch vorstellen, dass Autoren ohne 0815 Geschichte Schwierigkeiten haben, ein vernünftiges Exposee zu schreiben, bei den paar Zeilen die sie da besitzen.

    J.K. Rowlings Werke halte ich für sehr faszinierend, aber diese Faszination konnte sie aber anscheinend nicht in ein Exposee verpacken, vermute ich jetzt mal, bei der Anzahl von Absagen.

    Ich habe immer das Gefühl, dass die Verlage lieber Einheitsbrei verlegen, der sich 100% lohnt, als zu experimentieren.

    Dafür spricht ja auch, dass es ganze Verlage nur für "Paranormal Romance" gibt, die meines Erachtens einen relativ kleinen Spielraum haben, etwas besonderes zu erschaffen.

    Insgesamt ein sehr interessanter Beitrag von dir. Ich hoffe, irgendwann überrascht dich mal wieder ein Jugendbuch. Vielleicht in zehn Jahren?^^

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