Freitag, 21. Januar 2011

Neunte Folge: Umdeutung von Kinder- und Jugendliteratur während des Ersten Weltkriegs

Siebzig Jahre nach dem Tod eines Autors werden seine Rechte frei. In manchen Situationen macht sich sein Werk schon vorher selbstständig – sogar noch zu Lebzeiten des Schriftstellers. Wie muss sich so jemand fühlen, wenn er noch miterlebt, wie sein Werk von den Rezensenten aufgegriffen und komplett umgedeutet wird? Angepasst, falsch interpretiert oder Intentionen entdeckt, die der Autor nie beabsichtigt hat?

Einige Kinder- und Jugendbüchern passierte das im Ersten Weltkrieg in Deutschland. Betroffen war auch die Backfischliteratur. Der Trotzkopf von Emmy von Rhoden gehörte dazu: 1916 veröffentliche Marie von Felseneck (Marie Luise Mancke) die Fortsetzung »Trotzkopfs Erlebnisse im Weltkriege«, von denen 225.000 Exemplare verkauft worden sind. Wie wurde die Backfischliteratur nun als Thema für den Krieg missbraucht? Die Heldinnen bekamen einfach eine ganz spezielle Rolle während des Hurra-Patriotismus zugeschrieben. In der Kriegseuphorie riefen sie auf, sich aktiv am Stellungs- und Vernichtungskrieg zu beteiligen. Die Mädchen ermunterten ihre Ehemänner, an die Front zu ziehen, um das Volk im Krieg zu unterstützen. Es gab für Frauen zwei Rollen: Entweder als stolze Ehefrau eines Soldaten oder als Krankenschwester, denn im Lazarett konnten sie sich um die trauernden, verstümmelten Kriegshelden kümmern. Diese Typisierung sollte eine ganze Generation an diese Rollenbilder heranführen. Die Verklärung ging sogar so weit, dass der Standesunterschied pervertiert worden ist: Jede Frau, egal ob sie Gärtnerin, Studentin oder Adelige war, konnte sich in ihrer Rolle als Kriegskrankenschwester einen reichen Offizier angeln.

Manche Bücher brauchten keine Uminterpretation. Blieb es bei dieser Verklärung, gegen die nur die Realität von »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque helfen konnte? Nein, es wurde sogar schlimmer. Marga Rayle veröffentliche 1916 »Majors Einzige im Kriegsjahr«. Hier ging die Propaganda für den Krieg sogar soweit, dass die Ehefrau eine natürliche Sehnsucht verspürte, jemanden dabei zu haben, der für das deutsche Vaterland kämpft. »Daheim in großer Zeit. Erzählung für die Jugend aus dem Weltkrieg« von Emily Albert plädierte dafür, dass die Mütter von toten Soldaten stolz auf die Leistung ihrer Söhne sein sollten, denn sie fanden den ehrbaren Heldentod. Das Buch erschien im jüdischen Verlag Levy&Müller, der viel Propagandaliteratur während des Weltkriegs publizierte. Für Kleinkinder gab es ein kriegsfreundliches Bastelangebot: Im »Bunte Kriegsbilderbogen« konnten sie Kanonen, Flugzeuge, Uniformen und Zeppeline ausschneiden.

Ernst Georgij glänzte während des Ersten Weltkriegs durch seine Schnelligkeit: Der Autor verfolgte den Krieg genau und verfasste Romane, die minutiös die Taktiken und den Kriegsverlauf nacherzählten, wie beispielsweise »Mit Held Mackensen durch Galizien«. In Stuttgart hat sich die Vaterländische Verlagsanstalt gegründet, die extra Literatur für und über den Krieg publizierte. In einer Anzeige des Branchenblattes »Börsenblatt« stellte der Verlag fest, dass es für sie eine wichtige Aufgabe sei, die Truppen zu unterstützen. »Ran an den Feind. Seeschlachten und Fliegerkämpfe im Weltkriege 1914-15« ist reich bebildert und lockte die jungen Leser ebenfalls in die Kriegspropaganda hinein.

Bilderbücher blieben vor der Kriegseuphorie ebenfalls nicht verschont. Die kleine Raupe Nimmersatt? Das Grüffelo? Nein, damals lasen die Eltern ihren Kindern »Für unser Kriegskind. Verse aus unserer Zeit« vor. Eine Kostprobe? Eine Illustration zeigt ein kleines Kind abends beim Beten kniend vor dem Bett. »Hilf uns Deutschen, lieber Gott / Gib uns Milch und Brot. / Doch der Feind im Schützengraben / soll von alledem nichts haben. / Mach, daß unsre Truppen siegen / damit wir wieder Schulfrei kriegen.«
Geht es schlimmer? Ja, und zwar mit dem Bilderbuch »Hurra! Ein Kriegs-Bilderbuch« (1915) von Herbert Rikli. Eine Illustration zeigt ein kleines, dickes Kind mit roten Backen in einem Zeppelin, der Teddy sitzt daneben und eine große deutsche Flagge weht im Wind. Von dort wirft es Bomben auf dem Feind und lacht dabei glücklich.

Für Sammler gab es ein interessantes Angebot: Das Bilderalbum »Jungdeutschland« vom Kölner Verlag Stollwerck. Die Sammelbilder wurden in das Album gesteckt und zeigten Bilder vom Leben im Krieg, von Pfadfindern, Ausbildung und vielem mehr.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Zeit der Weimarer Republik. Ein Bestseller aus dieser Zeit, die Biene Maja, wird in der nächsten Folge behandelt.

3 Kommentare:

  1. Danke für die wirklich informative Abhandlung. Ein Fehler fiel mir auf: Else Ury ist nicht die 'Trotzkopf'-Autorin, sie schrieb in dieser Zeit Band III ihrer 'Nesthäkchen'-Reihe: Nesthäkchen und der Weltkrieg.

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  2. Vielen Dank für den Hinweis - ich hab's gleich geändert!

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  3. Toller Beitrag und sehr hilfreich, um sich einen kleinen Überblick zu verschaffen und Anhaltspunkte zu gewinnen.

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