Donnerstag, 13. Januar 2011

Rezension – Vladimir Nabokov: »Lolita«

Da lag er nun vor mir – mein erster Roman von Vladimir Nabokov. Das rororo-Taschenbuch sah vollkommen harmlos aus, obwohl die ersten 150 Seiten die schlimmsten, grässlichsten und ekelhaftesten waren, die ich je in meinem Leben gelesen habe und wohl auch jemals lesen werde. Mehr als einmal dachte ich daran, meine Lektüre abzubrechen, doch genauso sehr, wie mich das Thema abstieß, faszinierten mich der Stil und die Sprache von Nabokov. Und darüber mag ich ein wenig in meiner Rezension zum Roman »Lolita« erzählten.

Humbert Humbert ist der Ich-Erzähler des Romans. Er ist gebildet, stammt aus Frankreich, ist Literaturwissenschaft und lebt in den USA. Und er ist pädophil. Gefangen in den Gedanken der Hauptfigur, erlebt der Leser seine Perspektive der Welt mit, die zumindest ich freiwillig niemals erleben wollte. In seiner Kindheit erlebte Humbert eine tiefe erste Liebe zu einem Mädchen, die an Typhus starb, bevor beide sexuell aktiv werden konnten. Seitdem empfindet er – auch als Erwachsener – eine tiefe Zuneigung für Mädchen, in denen er seine Annabel wiederzuerkennen glaubt. Er nennt sie Nymphchen.

Zunächst führt er ein normales Leben, heiratet eine Frau, um sich von seiner Gier nach jungen Mädchen abzulenken. Die Ehe zerbricht, er geht in die USA, um dort eine Erbschaftsangelegenheit zu klären, erleidet wegen seiner Arbeit einen Zusammenbruch und landet in einem Sanatorium und geht anschließend auf eine geheime Arktisexpedition. Seine Reise endet schließlich in einer amerikanischen Kleinstadt. Eigentlich wollte er gar nicht bei der Witwe Charlotte Haze bleiben, bei der er als Mieter unterkommen sollte, doch dann fällt sein Blick auf die zwölfjährige Tochter Dolores, in die er sich verliebt. Sie ist das genaue Abbild von Annabel...

In diesem Roman wird man mit Sätzen wie folgendem konfrontiert:

»Meine Damen und Herren Geschworene, die Mehrzahl der Sexualverbrecher, die sich nach einer zuckenden, süß stöhnenden, körperlichen, doch nicht unbedingt coitalen Beziehung zu einem kleinen Mädchen sehnen, sind harmlose, zu nichts taugende, passive, schüchterne Fremdlinge, die die Gesellschaft nur um eines bitten, nämlich zuzulassen, daß sie ihrem – im allgemeinen völlig unschuldigen – sogenannten abweichenden Verhalten, ihren heißen, feuchten, privaten kleinen Akten sexueller Devianz nachgehen dürfen, ohne daß Polizei und Gesellschaft über sie herfallen. Wie sind keine Sexteufel! Wir vergewaltigen nicht, wie wackere Soldaten es tun. Wir sind unglückliche, sanfte Gentlemen mit Hundeaugen, gut genug integriert, um unseren Drang in Gegenwart Erwachsener zu beherrschen, aber bereit, Jahre um Jahre unseres Lebens für eine einzige Chance hinzugeben, ein Nymphchen zu berühren. Ich betone, wir sind keine Mörder. Dichter töten nie.« (Seite 102, Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 1994)

Das waren Sätze, die mir das Leben so richtig schwer gemacht haben. Und Beschreibungen von Lolita, die er ausgerechnet im Sommer antreffen musste. Ausgerechnet im zweiteiligen Badeanzug. Während er Frauen gar nicht wahrnahm und ihre Reize mit Vergleichen aus dem Tierreich ausschmückte, hielt er ständig nach Nymphchen Ausschau und brachte Beispiele aus der Vergangenheit, in denen römische Herrscher Minderjährige geheiratet haben – nur um sein Verhalten zu rechtfertigen. Gleichzeitig experimentierte er mit Schlafmitteln, um sowohl die Mutter als auch die Tochter nachts auszuschalten, um sich ungestört an der Zwölfjährigen vergehen zu können.

Nach einer Konfrontation ändert sich die Beziehung zwischen Humbert Humbert und Lolita allerdings schlagartig. Ich möchte nicht zuviel vom Inhalt verraten, aber wer die ersten 160 Seiten durchgehalten hat, dem wird der Rest wesentlich einfacher fallen, denn ab da an entkrampft sich der Augapfel und das ewige Schreckgespenst der Pädophilie rückt in den Hintergrund auf eine neue Ebene, die weniger ekelerregend ist als die Seiten zuvor. Stattdessen rücken die Schönheiten dieses Romans wieder in den Vordergrund. Endlich kann man die Unmengen an Kunstkniffen, Anspielungen, Mehrdeutigkeiten und Wortspiele ungezügelt genießen.

Eigentlich kann sich der Leser während des Lesens nie sicher sein – über gar nichts, denn Humbert Humbert sitzt im Gefängnis und schreibt den vorliegenden Roman als Tatsachenbericht auf. Der Herausgeber John Ray Jr. oder aber auch der echte Autor Nabokov brechen (und ändern?) die Geschichte in viele kleine Teile. Obwohl Humbert Humbert ein sehr intelligenter Mensch ist, ist seine Perspektive stark eingeschränkt und unzuverlässig. Er nimmt Medikamente, war mehrmals in psychologischer Behandlung und trinkt zuviel Alkohol. Und er manipuliert den Leser ständig, versucht seine Taten durch Argumente zu rechtfertigen, wird gleichzeitig zusehends eifersüchtiger und paranoider. All seine Beobachtungen müssen angezweifelt werden, je weiter die Geschichte vorangetrieben wird und vor allem nachdem Lolita spurlos verschwindet. 

Diese Herausforderung, das Analysieren und Sezieren dieses Charakters machen den Roman unglaublich spannend, besonders da er zum Schluss immer weiter abgleitet und zwischen Traum und Realität wandelt. (Spoiler: Hat Humbert Humbert nun den Entführer von Lolita wirklich umgebracht? Oder war er lediglich sein überlegenes, ebenfalls pädophiles Alter Ego?) Der Stil von Nabokov ist klar, manipulativ und ironisch. Er spielt mit den Klischees der amerikanischen Gesellschaft, vergleicht sie mit den europäischen Zuständen. Die Handlung ist nicht vorhersehbar und dem Autor gelingt es immer wieder, mögliche Taten detailreich zu skizzieren, um sie dann in sich einstürzen zu lassen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Anspielungen auf andere Bücher ich überlesen habe oder wie viel durch die deutsche Übersetzung verloren gegangen ist. Ich empfehle daher, das Buch unbedingt im Original auf Englisch zu lesen. Wer mit dem schwierigen Thema umgehen kann, wird mit »Lolita« viel Freude haben. Wer auf ein schlüpfriges Buch hofft, den möchte ich enttäuschen. Zum Glück!

2 Kommentare:

  1. für mich war es ebenfalls ein ambivalentes lesevergnügen:

    als mama tat ich mir mit dem stoff sehr schwer. als literaturverliebte war ich vom stil und der sprache fasziniert.

    leider auf deutsch gelesen ...

    LG, m.

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  2. "obwohl die ersten 150 Seiten die schlimmsten, grässlichsten und ekelhaftesten waren, die ich je in meinem Leben gelesen habe..."
    Lol... Ich nehme den Roman grade durch und auch mir gefällt es nicht zu lesen, wie sehr er eigentlich das Leben des Mädchens zerstört, die sich am Schluss (wegen seines Verlangens) in schrecklichen Verhältnissen wiederfindet. Aber die Schilderungen sind eigentlich recht harmlos und ich denke es gibt da wesentlich schlimmere Romane. Ich empfehle American Psycho von Bret Easton Ellis... Humberts Verhalten wird übrigens als hebephil klassifiziert, nicht als pädophil...

    Gruß =)

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