Montag, 22. November 2010

Veranstaltung: Kranichsteiner Literaturförderpreis

Es war still in dieser Ecke von Darmstadt. Weite Wiesen, die wegen des anbrechenden Winters gräulich erschienen, zertrampelt, aufgewühlt, keine Spuren. Zwischen Wegen und Klettergerüsten grenzten unzählige Schulen aneinander, mal Glas-Holz-Stahl-Konstruktionen, mal zerfallene Betonklötze mit farbigen-verblichenen Säulen, Treppen, Überdachungen und eingeschlagenen, vollgesprayten Fenstern.
Sich hier zurechtfinden? Zumindest ich hatte da so meine Probleme. Mein Ziel auf diesem Gelände voller Schulen? Bertolt Brecht. Diese Schule lud nämlich zu einer Veranstaltung ein, die zumindest ich hier niemals erwarten würde: Die Verleihung des Kranichsteiner Literaturförderpreises.

Warum in einer Schule? Die Veranstalter wollten näher an das Publikum heran und nahmen Platz in einer gymnasialen Oberstufenschule. Die Schüler, allem voran die Leistungskurse Deutsch, hatten sich im Unterricht mit den Texten der drei Finalisten beschäftigt. Unter ihnen waren Daniela Dröscher (Berlin Verlag), Ricarda Jung (S. Fischer) und Andre Rudolph (luxbooks) – zwei Prosa-Texte und ein Langgedicht.

Ich habe mehrere Jahre in einem Gymnasium unterrichtet, sodass ich weniger am Urteil der Kritiker-Jury (bestehend aus Lerke von Saalfeld, Burkhard Müller und Andreas Platthaus) interessiert war, als vielmehr gespannt auf die Reaktionen der Schüler wartete. Diese wurde zunächst nur zögerlich vorgetragen, da die namenlose Jury auf dem Podest sehr einschüchternd wirkte. Und es kam, wie es kommen musste.


Daniela Dröscher stellte ein Kapitel ihres neuen Romans vor, der sich um das Leben der Schauspielerin Pola Negri dreht. Ich fand die Textstelle wunderbar, ihren Stil zeitlos-blumig, die Einleitung spannungsreich. Den Kritikern war er zu bildgewaltig und die Schüler konnten mit dem Text wenig anfangen, was aber eher am Kontext lag: Lebte Pola Negri wirklich? Wer war Pola Negri? Was ist TBC? Das Verständnis litt gewaltig.


Ricarda Jung las eine Kurzgeschichte vor, die vor Lokalkolorit nur so strotzte. Eine glatte, schnörkellose Sprache, Personen mit Problemen, viele Nasen und Drillingsmotive waren typisch für ihren Text. Mir persönlich war die Sprache zu platt und einfach, die Handlung und der Aufbau sehr konservativ und wenig überraschend, doch der Jury gefiel diese Kriminalgeschichte, insbesondere die einsame Atmosphäre des Drei-Figuren-Kosmos, sehr gut. Und den Schülern? Die Autorin schien zu verzweifeln – spätestens nach dieser Aussage: »Ich glaube, ich habe Ihre Intention nicht verstanden.« Und so ging es vielen: Die Handlung blieb zu wage, viele Wendungen wurden nur angedeutet und aufgeklärt schon mal gar nicht. Das verschreckte die jungen Leser eindeutig.


Andre Rudolph trat als letzter Finalist vor das Mikrofon. Sein Verleger Herr L. saß im Publikum und schien etwas nervös und vor allem sehr gespannt zu sein, denn sein Schützling hatte am Telefon eine Überraschung angekündigt. Einen neuen Text. Ein Experiment. Ein Langgedicht. »in der nordstraße...« behandelte eine bekannte Straße in Leipzig und der Autor versetzte sich in die Prostituierten, Alkoholiker und Spielsüchtigen, die dort im Park hausten. Er ließ sie alle sprechen, wechselte die Perspektiven und schaffte es mit viel Ironie und zweideutigen Passagen, die Zuhörer bis zum Schluss zu fesseln. Die Jury? Lobte. Die Schüler? Lobten ausgesprochen viel. Die Jury? Kritisierte die Verwendung von »...« – und die Schüler? Verteidigten den Schriftsteller.

So kam es, dass sich an diesem Tag die Lyrik durchsetzte und Rudolph den mit 5.000 Euro dotierten Literaturförderpreis gewann. Die Schüler-Jury stimmte ebenfalls für den luxbooks-Lyriker, der somit weitere 1.000 Euro erhielt. Andre Rudolph zeigte sich nach der Preis-Vergabe erleichtert. Sein Gedicht ist noch nicht abgeschlossen, und der Förderpreis bestätigt seine bisherige Arbeit an dem Text. Sein Debütband liegt im Verlag luxbooks vor.

Die Jury sprach von einem »Sprachkonzert« und einem »dicht verwebten Stimmenteppich«. Es gebe so viele Subjekte in dem Gedicht, dass der Erzähler zum Zuhörer wird. Die Mehrdeutigkeit gefiel vor allem dem FAZ-Redakteur Andreas Platthaus: »Das Sternzeichen Krebs mit der Krankheit zu kombinieren, ist schon ziemlich böse. Genauso die vom Adler gefressene und immer wieder neu nachwachsende Leber von Prometheus mit einem Alkoholiker zusammenzubringen.« Die Hinweise auf Homer seien gut gewählt und sehr klug eingebaut. Rudolph hat es geschafft, die Moderne und das epische Gedicht zu vereinen.

Wenn es einen Förderpreis gibt, existiert dann auch ein Kranichsteiner Literaturpreis? Ja, und er wurde am selben Tag verliehen. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und ging dieses Jahr an die 1964 geborene und in Paris lebende Schriftstellerin Anne Weber. Sie erhielt den Preis als Anerkennung für ihr Werk. Damit tritt Weber in die Fußstapfen von Herta Müller, Martin Mosebach, Jan Faktor oder Helga M. Novak.

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