Donnerstag, 14. Oktober 2010

Buchmesse 2010 – Interview mit Melinda Nadj Abonji

Eines der schönsten Erlebnisse der Buchmesse war für mich die Tatsache, dass Melinda Nadj Abonji den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Natürlich war das Interview im Börsenblatt Café für mich eine kleine Pflichtveranstaltung, der ich lange entgegengefiebert habe.


In ihrer Rede hat Abonji ihrer Lektorin gedankt. Während des Interviews berichtete sie von ihren Erfahrungen mit dem Jung und Jung-Verlag. »Wir haben sehr viele Stunden miteinander verbracht und viele intensive Gespräche geführt. Ich hätte nie gedacht, dass es in einem Verlag so laufen könnte«, erinnerte sie sich. Die Verleger und vor allem die Lektorin haben sich intensiv mit ihrem Text auseinandergesetzt.

»Wir waren stumm vor Überraschung und Freude«, beschrieb der Verleger Jochen Jung den Moment, als der Name ihrer Autorin verkündet worden ist und fügte schmunzelnd hinzu: »Natürlich wussten wir, dass sie gewinnen wird.« Es mussten erst sechs Buchpreise verliehen werden, bevor ein kleiner Verlag diese Auszeichnung bekommen hat. »Die Mauer ist nun durchbrochen und unser Sieg ist deshalb auch eine Auszeichnung für alle anderen kleinen Verlage.« Er klagte ein wenig, als er auf seine Sichtweise angesprochen wurde, wodurch sich denn ein kleiner im Gegensatz zu einem großen Verlag auszeichne. »Die kleineren Betriebe machen oftmals die Entdeckungen und gehen mit neuen, jungen, unbekannten Autoren große Risiken ein. Wenn sie Erfolg haben, werden sie von anderen Verlagen mit größerem Budget gerne abgeworben.«

Jung und Jung hat mit dem Erfolg ihrer Autorin einen Kraftakt bewältigen müssen. Ursprünglich sind in der ersten Auflage 1.500 Bücher gedruckt worden. Auf der Long- und Shortlist war Abonji eher eine Außenseiterin. Nach der Verkündung des Buchpreis-Gewinns stieg die Nachfrage deshalb ziemlich schnell an und liegt mittlerweile bei 80.000 Exemplaren. »Wir steuern die 100.000-Grenze an«, so der Verleger und konnte sich ein zufriedenes Gesicht nicht verkneifen. Ich gönne dem österreichischen Verlagshaus diesen ungewöhnlichen Erfolg. Kamen während der letzten Tage logistische Überforderungen auf? »Nichts ist schöner, als solche Gespräche führen zu müssen«, strahlte Jochen Jung zum Schluss.

Immer wieder wurde Melinda Nadj Abonji auf die autobiografischen Züge in ihrem Roman angesprochen. Während des Interviews räumte sie mit einigen Spekulationen auf. »Meine Ankunft war vielleicht anders. Ich weiß es nicht, denn ich kann mich nicht erinnern.« Der Bruch mit ihrer Heimat war für sie so stark gewesen, dass sie sich an kaum etwas erinnert. Schließlich war Melinda Nadj Abonji damals fünf Jahre alt gewesen. Deshalb ist »Tauben fliegen auf« kein autobiografischer Roman, obwohl einige Einzelheiten wahr sind. »Ich fand es sehr spannend mir vorzustellen, wie es gewesen sein könnte. Es war ein sehr schönes Gefühl, Figuren und Situationen zu erfinden und sich in ihre Situation zu versetzen«, erinnerte sie sich an die Zeit des Schreibens zurück. Für Melinda Nadj Abonji war es eine sehr intensive Arbeitszeit gewesen.


Die Hauptfigur Ildiko wird von der jüngeren Schwester Nomi als Mischwesen bezeichnet, das durch verschiedene Welten wandert. Während des Interviews wird die Autorin deshalb nach ihrer Definition von Heimat gefragt. »Heimat ist für mich nicht an eine Nation gebunden, sondern an Sprachen und auch an die Musik.« Melinda Nadj Abonji liebt die ungarischen Lieder und auch die Sprache, die sie allerdings nie in der Schule gelernt hat. Gerade deshalb hat sie ihre Texte auf Deutsch geschrieben. Sie hat zwar experimentiert und einige Kurzgeschichten auf Ungarisch geschrieben, allerdings seien sie voller Fehler gewesen. »Sie waren witzig und ich habe beim Vortrag Narrenfreiheit genossen«, sagte sie augenzwinkernd.

Von einem »Nichts« ist sie zur Buchpreisträgerin des Jahres 2010 geworden. Melinda Nadj Abonji spielt selbst Geige und singt gerne. Ihre Liebe zur Musik hat sie in ihren Roman eingearbeitet. »Jedes Kapitel ist in einer eigenen Tonart geschrieben und hat einen ganz eigenen Rhythmus«, verriet sie. Die Autorin hat zudem ungarische Redewendungen und Lieder übersetzt und auch auf falsche Dialekte nicht verzichtet.

Sie hat kein Thesenbuch geschrieben, obwohl sie viele Konflikte der Jugoslawien-Kriege angedeutet hat. »Es ist ein wunderbar erzählter Roman«, betonte Jochen Jung und dieser wird in ihrer ungarisch-serbischen Heimat Centa stürmisch gefeiert. »Sie waren gerührt und haben Tränen geweint«, zeigte sich Melinda ebenfalls überrascht und gerührt über die Anteilnahme. Bis zum nächsten Sommer wird die Übersetzung ins Ungarische fertig sein und bereits jetzt ist ein großes Fest zusammen mit der Autorin geplant. Haben die Menschen der ungarischen Minderheit in der Vojvodina in Serbien überhaupt eine Vorstellung, um was es in ihrem Roman gehen könnte? Melinda bejahte. Sie hat zahlreiche Interviews bei den ungarischen Zeitungen und Fernsehsendern gegeben. »Viele von dort können auch gut Deutsch«, schloss sie.

Wesentlich frostiger war die Buchpreisträgerin, als sie auf die Reaktionen in der Schweiz angesprochen worden ist. Da wurden ihre Lippen schmal, und die Augen blickten zurück in eine Vergangenheit, die wohl nicht leicht gewesen ist. »Lange Zeit war ich in der Schweiz Bosnierin, Serbin, Ungarin gewesen. Andauernd wurde mein Name falsch geschrieben. Nun habe ich den Buchpreis gewonnen und bin plötzlich zu einer Züricherin geworden. Ich könnte jetzt viel über die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz erzählen – ich mache es aber nicht.«

In diesem Jahr feiert der Jung und Jung-Verlag nicht nur den Gewinn des Buchpreises, sondern auch sein zehnjähriges Jubiläum. Verändert die Auszeichnung nun die Perspektive und die Pläne des Verlags? Jochen Jung verneinte. »Der Erfolg ist für uns eine große Beruhigung, aber wir wollen so bleiben, wie wir sind. Vielleicht mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, mehr Ruhe und mehr Gelassenheit.«

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